Yorricks Coup - Paul Werner

5. Buch der Laura Förster Abenteuer


Tatort Nordsee. Der überraschende Besuch eines schottischen Ex-Agenten des britischen Inlandsgeheimdienstes MI 5 bei den Förster-Schwestern auf Dominica lässt sich zunächst recht harmlos an. Der offenkundig historisch interessierte Kiltträger erweist sich als geradezu unerschöpfliche Quelle an Wissen über eine der größten Flottenoperationen der Moderne, im Rahmen derer das katholische Oberhaupt von Spanien und Portugal, König Philipp II., 1588 eine etwa 130 Schiffe umfassende Armada in La Coruña zusammenzog und nach Norden entsandte. 

Ziel der Mammut-Operation war es, die britischen Inseln zu erobern und die protestantische Königin Elisabeth I. für ihre dreisten Häresien zu bestrafen und für die laufenden, mit ihrer stillschweigenden Billigung von tollkühnen britischen Freibeutern wie Francis Drake, Martin Frobisher und anderen inszenierten Raubzüge zur Verantwortung zu ziehen.

Bevorzugte Opfer dieser Piraten ihrer so verschlagenen wie raffgierigen Königin waren nämlich spanische Schiffe, die, schwer mit südamerikanischem Raubgold beladen, auf dem Heimweg von der Neuen in die Alte Welt die berüchtigten Nadelöhre zwischen den Kleinen und Großen Antillen passieren mussten, wo vor allem die unseligen Briten ihnen auflauerten. 
Als hätten sie aus solch bitteren Erfahrungen nichts gelernt, setzten die Spanier im Hochsommer jenes Schicksalsjahres 1588 noch einen drauf und begaben sich in ein noch viel gefährlicheres Nadelöhr, den Ärmelkanal, mit dessen komplizierten Gegebenheiten sie naturgemäß weit weniger vertraut waren als die hier das Hausrecht ausübenden Briten. 
So kam es, wie es bei etwas mehr Umsicht nicht unbedingt hätte kommen müssen. Die Armada erlitt in der Schlacht bei den flämischen Bänken vor Gravelines eine deftige Niederlage. Ein schwerer Rückschlag, aber längst noch nicht aller Tage Abend. Im Gegenteil. Wäre den wie entfesselt um sich feuernden Briten in dem Augenblick, da ihnen die Munition ausging, nicht paradoxerweise auch noch der Wettergott zu Hilfe gekommen, indem er einen für die Jahreszeit völlig untypischen Orkan von der Kette ließ, wer weiß, wie das Ding am Ende ausgegangen wäre.





So viel zum historischen, von den Siegern geschriebenen Teil. Den Verlierern einen Kranz zu flechten, fand sich diesmal kein genialer Aischylos. Deshalb weniger bekannt ist das Schicksal einzelner versprengter spanischer Schiffe der von der „Mutter der Stürme“ aus dem Ärmelkanal in die offene See und fortan immer weiter nach Norden getriebenen Flottenreste. Zu den Glückspilzen, die nicht an den norwegischen Schären oder schottischen und irischen Klippen zerschellten, sondern sich wenigstens vorübergehend in sicher scheinende Buchten und Häfen retteten, gehörte die von der Rostocker Hanse ausgeliehene und unter neuem Namen der Flotte einverleibte El Gran Grifón, das Flaggschiff des Armada-Versorgungsgeschwaders. Die Grifón warf ihren Anker in einer winzigen Bucht an der Südostküste der kleinen, zwischen den Shetlands und Orkneys liegenden Insel Fair Isle. Die Freude währte jedoch nicht lange, denn der Anker schlierte und das Schiff wurde auf die nahen Klippen vertrieben, zerbrach und sank.

Unter den Soldaten und Besatzungsmitgliedern, die sich auf die Insel retten konnten, befand sich ein Oberzahlmeister, dem die Verwaltung des von der Grifón mitgeführten Teils der Kriegskasse der Armada oblag. Während sich die Spur dieses Mannes auf den Shetlands plötzlich verlor, tauchte in Auslandskontoren der deutschen Hanse wie etwa im norwegischen Bergen oder im russischen Nowgorod, aber auch in London und Hamburg immer wieder ein mysteriöser Engländer auf, der sich Yorrick nannte und der, obwohl alles andere als ein höfischer Spaßmacher wie sein Namensvetter in Shakespeares Hamlet, doch alle Welt zum Narren hielt. 















Auf dem Hintergrund dieses breit gefächerten und gleichsam in Technicolour und Cinemascope entworfenen historischen Schlachtengemäldes unterbreitet der schottische Besucher den Förster-Schwestern das Angebot eines Auftrags, der für Laura und Solitaire zur bislang größten Herausforderung ihres Lebens immer am Rande des Verbrechens werden soll.
Bei dem besagten angeblichen Engländer handelt es sich nämlich in Wahrheit nicht nur um einen von aller Welt gesuchten spanischen Deserteur, sondern auch um den Begründer eines nach ihm benannten Geheimbundes, der Bruderschaft Yorricks. Diese Organisation hatte sich unter seiner Führung sowie wahrscheinlich auch noch unter derjenigen seines Sohnes dem, wenn man so will, hehren Ziel verschrieben, Rache an den Briten zu nehmen und Spanien zur Wiedererlangung seiner Vormachtstellung verhelfen, war aber von nachfolgenden Generationen mehr und mehr zur kriminellen Vereinigung verkommen. 
Vom Auf und Ab der Geschichte ähnlich gebeutelt und aufgerieben wie ehedem die Armada, war die letzthin völlig von der Bildfläche verschwundene „Bruderschaft“ in jüngerer Zeit von einer rechtsextrem gesinnten, in der Wahl ihrer Mittel alles andere als zimperlichen Organisation zu ihrer ursprünglichen politischen Zweckbindung zurückgeführt und als wikingerhaft germanisierendes Thule Tingwall in Beschlag genommen worden. 

 

Diese umstürzlerisch umtriebige Organisation zu unterwandern und letztlich zu zerschlagen, waren britische und andere Geheimdienste seit Jahrzehnten vergeblich bemüht. Deshalb, so der Schotte, sei man nun auch bereit, auf die Hilfe unkonventionell operierender privater Agenturen wie des CRISP Laura Försters zurückzugreifen, weil deren unorthodoxes, von starren gesetzlichen Regelungen wenig beeindruckten Methoden womöglich eher geeignet seien, die gewünschten Ergebnisse zu zeitigen. In etwa nach dem schönen Motto: willst du einen Dieb fangen, brauchst du einen anderen Dieb, ihn aufzuspüren. 

Laura und Solitaire lassen sich aus unterschiedlichen Motivationslagen trotz großer Bedenken auf das Abenteuer ein, das, wie sie sehr bald feststellen, vor allem deshalb tödlich für sie enden kann, weil der Schotte ein doppeltes Spiel mit ihnen trieb.  

Aus Jägerinnen werden so Gejagte, die, immer auf den Spuren Yorricks, am nordwestlich Rand Europas einer Schimäre namens Bluebell nachhängen und einen hohen Preis für den Erfolg zu zahlen haben werden. Hoch, aber vertretbar im Vergleich zu dem, was das Thule Tingvall im Rahmen des dramatischen Showdowns zu erleiden droht… 
Fernab der Verwicklungen des spannenden Narrativs ist Yorricks Coup eine Verbeugung vor einer der faszinierendsten Episoden der modernen Seekriegsgeschichte und eine Huldigung ihrer zum Teil schrulligen historischen Protagonisten, deren menschliche Schwächen mehr zu Sieg und Niederlage beitrugen, als es die rein materiellen Voraussetzungen hüben wie drüben für sich genommen je vermocht hätten.
Und Yorricks Coup ist, sicher nicht an letzter Stelle, eine Liebeserklärung an die vom Sturm der Geschichte umtosten und vom Nebel der nordischen und gälischen Legenden und Mythen verhangenen Archipele der nordwestlichen Peripherie unseres Kontinents: Hebriden, Orkneys, Failr Isle und Shetlands. Tatort Nordsee eben….